Dornröschens Traum
stefan am 1. Juni 2001 um 01:11 UhrDornröschens Traum
“Der Traum von der verdrahteten Gesellschaft: Jede Familie hat einen oder mehrere Home Computer, einige haben zusätzlich einen oder mehrere Personal Computer oder Arbeitsplatz-Stationen. Alle diese Stationen sind über Telefon miteinander verbunden. Verschiedene öffentlich-rechtliche und kommerzielle Datenbanken sind für jeden “anrufbar”. Wir kaufen per Telecomputer ein, wir arbeiten, falls wir zu den Datenverarbeitenden gehören, dezentralisiert entweder zu Hause oder im nahen Community Center für ein Unternehmen, das eigentlich nur als Datenbank und Telefonnummer in Erscheinung tritt. Die Kinder gehen zwar im Community Center zur Schule, aber Speziallehrer sind nur über Telekommunikation erreichbar. Transaktionen, Verwaltungsakte, Heiratsvermittlungen, Studien, alles was nicht physische Präsenz erfordert, wird mittels des neuen Mediums vollbracht. Der Home Computer braucht wenig Energie, wir wohnen im Grünen, und die Elektrizität kommt via Biogas aus dem Klo. Alle leben furchtbar gesund und pflanzen Biogemüse, halten ein paar Haustiere zum Streicheln und Schlachten. Auf den Autobahnen des letzten Jahrhunderts wächst Efeu, und es bilden sich Mythen: Die sogenanten Autobahnen waren Opferstätten für Menschenopfer einer vergessenen Religion. An vormals christlichen Feiertagen wie Ostern und Pfingsten sollen besonders viele Menschen geopfert worden sein. Ja, damals, im blechernen Zeitalter. Aber heute: Es herrscht kein Hunger mehr und kein Krieg. Die Wüste ist, dank elektronisch gesteuerter und sonnengespeister Bewässerungsanlagen wieder grün. Die Beduinen verschiedenster Kulturen überwachen ihre Herden mit Satellitenkameras. Auch die Alpwirtschaft blüht wieder, ebenso die Jagd in ökologischen Grenzen und das Sammeln von Wildgemüse. Auch hier hilft die Datenverarbeitung: Wild und Pflanzenwachstum sind elektronisch markiert, was das Wiederfinden ergiebiger Stellen erleichtert. Die landwirtschaftliche Produktion ist vollständig dezentralisiert. In großen Betrieben verrichten Roboter die Schwerarbeit, und die Menschen üben Kontrollfunktionen aus oder kehren zurück zum holistischen Handwerk. Dienstleistungen menschlicher Art erleben eine Renaissance. Berufe wie Conversationsdame, Butler, Gärtner sind wieder in. Clubs mit guten Restaurants, Barbiere mit Conversationsniveau, Teekränzchen und Bordelle für alle Geschlechter haben eine neue Blüte. Wir sammeln Pilze und studieren tibetanische Medizin, pflegen alte Sprachen, machen viel Musik, entwerfen neue Spiele, studieren Astrologie und kombinieren das alles zum großen Glasperlenspiel. Oder wir pflegen die Künste, Töpferei, Malerei, schreiben Geschichten, schneidern Kleider, schmieden Gold und Silber. Das Rohmaterial kommt aus der vollautomatisierten Abfallverwertungsanlage. Es ist das Zeitalter des homo ludens. […]
Und am Ende des Lebens stirbt man, natürlich und glücklich, nicht im Suicide-Salon, wie im Film “Soilent Green” oder in den Geschichten von Vonnegut, sondern im Bett, im Kreis der Lieben wie der Stammvater Abraham selig.
Uff, wo bin ich, sprach Dornröschen, nachdem der Prinz es geküsst hatte. Du bist nach hundert Jahren Schlaf aufgewacht. Und fast hätte es das alles geglaubt.
Wenn wir als Kinder Monopoly spielten, war immer einer ganz schnell bankrott, und weil wir länger spielen wollten, erfanden wir Darlehen und Inflation. Wenn aber alle sachte, aufs Gleichgewicht achtend, gemeinsam Anti-Monopoly spielen, dann, so zeigt die Computersimulation, wächst der Wohlstand aller, und das Spiel kann unendlich fortgesetzt werden.
Computersimulation kann uns die Stunde der atomaren Vernichtung näher bringen, warum nicht auch die Stunde des ökologischen Gleichgewichts. Man mache jeden Morgen ein paar Selbstbegeisterungsübungen und glaube an die “Kraft des positiven Denkens”! Aber ich schreibe das alles fünfzig Kilometer südlich der Shouf-Berge im Libanon, und mein Glaube an die sinnvolle Verwendung menschlicher Phantasie ist zutiefst erschüttert.”
“1984: Brave New Work” by Johann A. Makowsky aus Kursbuch (75) 1984
Soviel zu Eutopia 1984.